Verkehrsschild mit Piktogramm Altenheim, vor gelben Hintergrund.

Betriebswirtschaft schlägt Sorge um Senioren

von Solveig Bach, 11.02.2022, 08:41 Uhr, ntv.de

Bis 2030 wird die Zahl der Men­schen in Deutsch­land, die pfle­ge­be­dürf­tig wer­den, auf rund sechs Mil­lio­nen stei­gen. Vie­le von ihnen wer­den in Alten- und Pfle­ge­hei­men leben und vie­le die­ser Hei­me wer­den Finanz­in­ves­to­ren gehö­ren. Doch ver­tra­gen sich Ren­di­testre­ben und gute Pflege?

Bewoh­ner mit Druck­ge­schwü­ren, redu­zier­te Mahl­zei­ten, feh­len­de Bett­wä­sche oder Pfle­ge­ma­te­ria­li­en und so wenig Per­so­nal, dass kaum Zeit bleibt, sich um die alten Men­schen zu küm­mern. Das sind die Zustän­de, die RTL-Repor­te­rin­nen und Repor­ter des “Teams Wall­raff” teil­wei­se in Alten­hei­men beob­ach­ten, in denen sie für inves­ti­ga­ti­ve Recher­chen als Prak­ti­kan­ten anheuern.

Die Betrei­ber die­ser Pfle­ge­ein­rich­tun­gen sind Sere­ni Oriz­zon­ti, Emvia Living und Allo­heim. Sie alle sind als inter­na­tio­na­le Kon­zer­ne und Finanz­in­ves­to­ren im deut­schen Gesund­heits­we­sen aktiv. Sol­che Anbie­ter betrei­ben inzwi­schen knapp 45 Pro­zent der Pfle­ge­hei­me in Deutsch­land. 50 wei­te­re Pro­zent ent­fal­len auf frei­gemein­nüt­zi­ge Trä­ger, also Kir­chen, aber auch DRK, AWO und ande­re Wohl­fahrts­ver­bän­de. Ledig­lich fünf Pro­zent der Alten- und Pfle­ge­hei­me sind noch in kom­mu­na­ler Trägerschaft.

Doch vor allem die Anbie­ter, hin­ter denen aus­schließ­lich Finanz­in­ves­to­ren ste­hen, machen den Pfle­ge­ex­per­ten Sor­gen. Von den 28 größ­ten Pfle­ge­heim­kon­zer­nen auf dem euro­päi­schen Markt sind etwa 40 Pro­zent in der Hand von Pri­va­te-Equi­ty-Gesell­schaf­ten, die also die Pfle­ge­wirt­schaft zum Ver­mö­gens­auf­bau nut­zen. Vie­le von ihnen sind zuneh­mend auch in Deutsch­land aktiv. Dass das Enga­ge­ment von Finanz­in­ves­to­ren im Pfle­ge­be­reich so pro­ble­ma­tisch ist, hat gleich meh­re­re Grün­de. Das Unter­neh­mens­ziel der Pri­va­te-Equi­ty-Inves­to­ren ist maxi­ma­le Ren­di­te in kür­zes­ter Zeit. Klei­ne Pfle­ge­heim­be­trei­ber erzie­len nor­ma­ler­wei­se Über­schüs­se von zwei bis drei Pro­zent, bei bör­sen­no­tier­ten Pfle­ge­kon­zer­nen sind auch vier oder fünf Pro­zent mög­lich. “Aber zehn Pro­zent oder mehr, das geht nur auf Kno­chen der Mit­ar­bei­ten­den oder der Bewoh­ne­rin­nen oder Bewoh­ner”, sagt der Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Ste­fan Sell ntv.de.

Effizienz hat Grenzen

Die Finanz­in­ves­to­ren argu­men­tie­ren häu­fig, dass sie durch den Zusam­men­schluss von Ein­rich­tun­gen der glei­chen Fach­rich­tung und ihrer inter­na­tio­na­len Auf­stel­lung wirt­schaft­li­cher arbei­ten als ande­re Anbie­ter. Den Ein­wand lässt Sell nicht gel­ten. Man müs­se sich klar­ma­chen, dass 70 Pro­zent der Kos­ten in der Pfle­ge Per­so­nal­kos­ten sei­en. “Wenn also ein Anbie­ter Per­so­nal­kos­ten­quo­ten von 50 oder 55 Pro­zent hat, dann lässt sich das nicht mit Effi­zi­enz erklä­ren, son­dern damit, dass die Mit­ar­bei­ten­den schlech­ter bezahlt wer­den oder dass die Per­so­nal­schlüs­sel zum Nega­ti­ven geän­dert sind.” Das heißt, es wird weni­ger oder schlech­ter aus­ge­bil­de­tes Per­so­nal ein­ge­setzt. Oft ist bei­des der Fall.

Der Per­so­nal­man­gel in der Pfle­ge trifft die Alten­pfle­ge beson­ders hart. Das Kom­pe­tenz­zen­trum Fach­kräf­te­si­che­rung (Kofa) des arbeit­ge­ber­na­hen Insti­tuts der deut­schen Wirt­schaft (IW) bestä­tig­te in sei­nem Jah­res­rück­blick 2021, dass der Fach­kräf­te­man­gel in der Alten­pfle­ge beson­ders aus­ge­prägt sei. Das liegt unter ande­rem dar­an, dass die Löh­ne und Gehäl­ter in Alten- und Pfle­ge­hei­men noch unter denen in ande­ren Gesund­heits­be­rei­chen liegen.

Aus dem Fach­kräf­te­man­gel ergibt sich für vie­le Pfle­gen­de auch eine enor­me Arbeits­be­las­tung. “Nachts ver­sorgt eine Pfle­ge­kraft allein zum Teil 50 Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner, von denen vie­le demen­zi­ell erkrankt sind”, berich­tet Pfle­ge­ex­per­te Sell. Men­schen mit Demenz sind häu­fig nachts beson­ders aktiv und zum Teil auch aggres­siv. Der hohe Ein­satz von un- und ange­lern­ten Kräf­ten belas­tet die Fach­kräf­te noch zusätz­lich. Denn nur die exami­nier­ten Pfle­ge­kräf­te dür­fen bestimm­te Arbei­ten aus­füh­ren, wie bei­spiels­wei­se Medi­ka­men­te zusam­men­stel­len und ver­ab­rei­chen. Wenn das Team nur aus weni­gen Fach­kräf­ten besteht, müs­sen die­se auch dafür Sor­ge tra­gen, dass An- und Unge­lern­te kei­ne Feh­ler machen und die rich­ti­gen Anwei­sun­gen bekommen.

Die Pfle­ge­hei­me, in denen die RTL-Repor­te­rin­nen und Repor­ter waren, bestrei­ten, dass sie zur Gewinn­ma­xi­mie­rung an Qua­li­täts­aspek­ten spa­ren. Die hohen Ren­di­ten der Pri­va­te-Equi­ty-Gesell­schaf­ten sind jedoch nur mit Ein­spa­run­gen bei allen Aus­ga­ben zu schaf­fen. Beim Per­so­nal, aber auch beim Essen oder bei Pfle­ge­mit­teln wird kon­se­quent der Rot­stift ange­setzt. “Man spart an der Ver­sor­gung mit Lebens­mit­teln und erfüllt kei­ne teu­ren ‘Son­der­wün­sche’ wie Obst”, bestä­tigt Sell die Beob­ach­tun­gen der RTL-Repor­te­rin­nen und ‑Repor­ter. “Man tauscht die Wäsche weni­ger oft, man kauft Win­deln, die ein Fas­sungs­ver­mö­gen von 20 Litern haben, damit man sie nur alle 24 Stun­den wech­seln muss.”

Kein langfristiges Interesse

Eine wei­te­re Ren­di­te­quel­le sind die Immo­bi­li­en. Häu­fig bestehen die Pfle­ge­ge­sell­schaf­ten, die in der Hand von Finanz­in­ves­to­ren sind, aus zwei Betrie­ben: einer Betriebs­ge­sell­schaft für den Pfle­ge­be­trieb und einer Immo­bi­li­en­ge­sell­schaft. Die Betriebs­ge­sell­schaft zahlt der Immo­bi­li­en­ge­sell­schaft Mie­te, die frei fest­ge­legt wer­den kann und eben­falls aus dem Betrieb des Pfle­ge­heims erwirt­schaf­tet wer­den muss. Die Immo­bi­li­en­ge­sell­schaft hat dann “erheb­li­che Ein­nah­men aus der Ver­mie­tung im Prin­zip an sich selbst”, wie Sell es beschreibt. Die­se Kos­ten für Unter­kunft, Ver­pfle­gung und auch die Inves­ti­ti­ons­kos­ten für das Pfle­ge­heim tra­gen die Bewoh­ne­rin­nen und Bewohner.

Doch es geht nicht nur um die Höhe der Gewin­ne, son­dern auch um ihre Ver­wen­dung. Frei­gemein­nüt­zi­ge Trä­ger wie kirch­li­che oder ande­re Wohl­fahrts­ver­bän­de sind laut der Abga­ben­ver­ord­nung ver­pflich­tet, die erziel­ten Über­schüs­se zeit­nah an glei­cher Stel­le wie­der zu reinves­tie­ren. Pri­va­te Pfle­ge­an­bie­ter haben die­se steu­er­recht­li­chen Auf­la­gen nicht. Sie kön­nen den Gewinn teil­wei­se oder voll­stän­dig wie­der in das Pfle­ge­heim ste­cken, müs­sen es aber nicht. Die gro­ßen ren­di­te­ori­en­tier­ten Pfle­ge­kon­zer­ne geben ihre Gewin­ne unter ande­rem an die Anteils­eig­ner wei­ter, bei den bör­sen­no­tier­ten Unter­neh­men erhal­ten die Akti­en­in­ha­ber dann Dividenden.

Die Pri­va­te-Equi­ty-Gesell­schaf­ten haben jedoch Finanz­in­ves­to­ren als Anteils­eig­ner und die haben gro­ßes Inter­es­se an schnel­len und hohen Gewin­nen. Die lang­fris­ti­ge Ent­wick­lung eines Geschäfts­fel­des steht hin­ge­gen nicht im Fokus. Bin­nen weni­ger Jah­re wer­den die oft mit Kre­di­ten ange­kauf­ten Unter­neh­men auf Effi­zi­enz getrimmt und dann mit sat­ten Gewin­nen wei­ter­ver­kauft — die soge­nann­te “Buy-and-Build-Stra­te­gie”. Auch die Rück­zah­lung der Schul­den ver­bleibt meist bei den über­nom­me­nen Unter­neh­men. Für die Pfle­ge­hei­me, ihre Aus­stat­tung und bau­li­che Sub­stanz, das Pfle­ge­per­so­nal und die Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner bleibt da kaum etwas.

Zusammenhang zwischen Renditeorientierung und Pflegequalität

“Betriebs­wirt­schaft­lich ist das sehr ver­nünf­tig”, sagt Pfle­ge­for­scher Ste­fan Sell. Das wach­sen­de Ver­mö­gen von insti­tu­tio­nel­len Anle­gern welt­weit spricht eine ein­deu­ti­ge Spra­che. Doch die­ser finan­zi­el­le Erfolg hat eine Schat­ten­sei­te. Zwar warnt Sell vor der pau­scha­len Ein­schät­zung, dass pri­va­te, gewinn­ori­en­tier­te Pfle­ge­heim­be­trei­ber schlecht sei­en und nicht pri­va­te gut. “Wir wis­sen aus den Pfle­ge­s­kan­da­len, dass auch in nicht­ge­winn­ori­en­tier­ten Ein­rich­tun­gen immer wie­der skan­da­lö­se Zustän­de vor­ge­fun­den wur­den.” Neue­re Stu­di­en aus den USA, Kana­da oder Frank­reich zei­gen aber einen Zusam­men­hang zwi­schen Ren­di­te­ori­en­tie­rung und schlech­te­rer Qua­li­tät als in ver­gleich­ba­ren Häu­sern. “Pfle­ge­hei­me, die sich im Besitz einer Pri­va­te-Equi­ty-Fir­ma befin­den, bie­ten eine gerin­ge­re Qua­li­tät der Lang­zeit­pfle­ge bei gleich­zei­tig höhe­ren Medi­ca­re-Gesamt­kos­ten pro Pfle­ge­be­dürf­ti­gem”, schrei­ben bei­spiels­wei­se Robert Tyler Brown und sein Team vom New Yor­ker Weill Cor­nell Medi­cal Col­le­ge in ihrer Stu­die vom Okto­ber 2021.

“Pfle­ge­im­mo­bi­li­en als Ren­di­te­chan­ce und als Geschäft, das ist die Rea­li­tät”, betont Sell. Aus dem Blick gera­te dabei aber, dass in die­sen Alten- und Pfle­ge­hei­men Eltern und Ange­hö­ri­ge leben, die man liebt und gut ver­sorgt wis­sen will. “Und eigent­lich reden wir auch über uns selbst.” Denn die Zahl der Men­schen in Deutsch­land, die in den kom­men­den Jah­ren pfle­ge­be­dürf­tig wer­den, wird stei­gen — nach einer aktua­li­sier­ten Exper­ten-Hoch­rech­nung für den Bar­mer-Pfle­ge­re­port bis 2030 auf rund sechs Mil­lio­nen Men­schen. Wenn man die­sen Markt aus­schließ­lich Ren­di­te­er­wä­gun­gen über­lässt, zeich­net der Pfle­ge­ex­per­te eine düs­te­re Visi­on: “Es wird eine Basis­ver­sor­gung für alters­ar­me Men­schen auf unter­ir­disch schlech­tem Niveau geben. Dann spre­chen wir über Mehr­bett­zim­mer und die Absen­kung von Pfle­ge- und Ernäh­rungs­stan­dards. Dane­ben wird es für Wohl­ha­ben­de Senio­ren­re­si­den­zen geben, wo aus­län­di­sche Pfle­ge­kräf­te eine Betreu­ung rund um die Uhr sicher­stel­len. Die kos­ten dann meh­re­re Tau­send Euro im Monat.”

Quelle:

https://www.n‑tv.de/panorama/Betriebswirtschaft-schlaegt-Sorge-um-Senioren-article23117498.html

ntv.de

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